Sonntag, 16. September 2018

Die United States of Amazon


Amazon drückt sich um Steuern und Tarifverträge, wo immer es möglich ist. Aber der Widerstand wächst, vor allem unter den Beschäftigten in Europa.

36.720 US-Dollar verdient Jeff Bezos, der Amazon-Chef laut der Süddeutschen ­Zeitung in jeder Minute eines jeden Tages. In jeder Minute, Sie haben das richtig gelesen. An 365 Tagen im Jahr. Die Amazon-Beschäftigten in den USA verdienen derzeit 28.446 US-Dollar im Jahr, also noch nicht einmal so viel, wie ihr Chef in einer Minute. Eine vierköpfige Familie kratzt ­damit an der US-Armutsgrenze. In sechs Bundesstaaten der USA zählen Amazon-Beschäftigte zu den Amerikanern, die am häufigsten Lebensmittelhilfe in Anspruch nehmen müssen.

Hierzulande sieht das nicht viel anders aus. Amazon-Beschäftigte mit Familie sind immer wieder darauf angewiesen, mit Hartz IV aufzustocken. Jeff Bezos ist trotzdem „stolz“ auf die Löhne, die er zahlt. Das sagte er zuletzt, als er Ende April in Berlin mit dem Axel-Springer-Award ausgezeichnet wurde. Mit dem Award ehrt das Medienhaus – wie schon auf der ­Titelseite dieser ver.di-publik-Ausgabe ­zitiert – „herausragende Persönlichkeiten, die außergewöhnlich innovativ sind, neue Märkte schaffen und Märkte verändern, Kultur formen und sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen“.

Der reichste Mann der Welt
Jens Brumma, der seit acht Jahren bei Amazon in Bad Hersfeld arbeitet, sagt: „Innovativ ist Bezos. Mit seinem Geschäfts­modell ist er reich geworden, aber auch nur er selbst.“ Seinen Chef hat er zur Protestveranstaltung gegen die Preisver­leihung vor dem Axel-Springer-Haus in Berlin – zu der mehrere hundert Amazon-Beschäftigte aus ganz Europa gekommen sind – als goldene Pappfigur mitgebracht: „Wir haben Jeff Bezos ja quasi durch unsere Arbeit vergoldet. Wir haben ihn zum reichsten Mann der Welt gemacht“, sagt er. Tatsächlich ist der Amazon-Gründer laut dem US-Wirtschaftsmagazin Forbes mit einem geschätzten Gesamtvermögen von 112 Milliarden US-Dollar derzeit der reichste Mensch der Welt.

Mit seinem Onlinehandel hat Bezos 2017 mit 177,9 Milliarden US-Dollar (circa 142,4 Milliarden Euro) rund 31 Prozent mehr ­Umsatz gemacht als im Vorjahr. Für Deutschland hat Amazon umgerechnet 13,7 Milliarden Euro gemeldet, was einem Umsatzplus von 19,8 Prozent gegenüber 2016 entspricht. Deutschland bleibt damit laut einer Meldung des Börsenblatts nach den USA der zweitwichtigste Markt für den US-Konzern. Mit einem Reingewinn von 2,4 Milliarden US-Dollar landete Amazon 2017 zwar nur auf Platz 83 der weltgrößten Konzerne. Doch schon 2016 belegte Amazon den Platz 12 unter den umsatzstärksten Unternehmen. Nach wie vor investiert Jeff Bezos seine Einnahmen in die Expansion seines Wirtschaftsimperiums. Amazon sei heute schon „das Kaufhaus der Welt“ hieß es unlängst im Hamburger Abendblatt. Doch geht es nach Bezos, passen da noch ein paar Stock­werke drauf.

Aus Protest gegen Obdachlosensteuer
Anfang 2017 kündigte er an, dass er bis Mitte 2018 die Anzahl seiner in den USA Beschäftigten um 100.000 auf 280.000 erhöhen wolle. Aufgehalten hat ihn dabei zuletzt der Stadtrat von Seattle, dort, wo seine Amazon-Zentrale steht. Nach einem Bericht der New York Times hat Bezos den Bau zweier neuer Bürokomplexe für insgesamt 11.500 Mitarbeiter/innen gestoppt, aus Protest gegen eine geplante Steuer zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit, die in Seattle rapide angestiegen ist. 500 US-Dollar pro Mitarbeiter und Jahr sollen große Unternehmen wie Amazon nach dem Willen des Stadtrats an die Stadt zahlen. Damit soll der Mangel an bezahlbarem Wohnraum behoben werden. Durch den Zuzug neuer Mitarbeiter/innen der großen Konzerne seien die Mieten in Seattle explodiert, viele Einwohner könnten deshalb ihre Wohnungsmieten nicht mehr aufbringen.

Ein Zustand, den Amazon selbst mitverschuldet hat. Am Stammsitz von Amazon arbeiten derzeit 45.000 besser bezahlte Angestellte, während etwa an der Ost­küste im Bundesstaat Ohio bereits jeder zehnte Amazon-Beschäftigte Lebensmittelmarken beziehen muss. Aber eben nicht so in der Westküsten-Metropole Seattle. Allein für die Beschäftigten dort müsste Amazon mehr als 22 Millionen US-Dollar Obdachlosensteuer im Jahr an die Stadt entrichten. Amazon droht deshalb jetzt mit der Gründung einer zweiten Konzernzentrale in Vancouver oder Boston, wo das Unternehmen angekündigt hat, Tausende neue Mitarbeiter/innen suchen zu wollen. Beide Städte versprechen günstigere Steuersätze, genauso wie weitere 20 US-Städte, die sich um Amazon als ­Arbeitgeber reißen.

Dabei ist Amazon nur einer von etlichen internationalen Konzernen, die sich als meisterhaft in der Umgehung von Steuern erweisen. So wurde Irland im April von der EU dazu angehalten, 13 Milliarden Euro Steuern von Apple nachzufordern. Das Steuerabkommen zwischen dem iPhone-Produzenten und dem EU-Mitgliedsstaat wurde als rechtswidrige Steuerbeihilfe ­verurteilt.

Leider verurteilt kein Staat Unternehmen wie Apple und Amazon wegen ihrer teils unmenschlichen Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne. Seit fünf Jahren kämpfen die Amazon-Beschäftigten in Deutschland bereits für einen Tarifvertrag. Einiges konnten sie bisher schon erreichen, teils höhere Löhne, teils Besserungen bei den Arbeitsbedingungen, aber keinen Tarifvertrag, der das Erreichte auch Schwarz auf Weiß sichert und einklagbar macht, sollten Vereinbarungen nicht eingehalten werden.

Vereint im Tarifkampf
Cornelia Gesang, die in Bad Hersfeld für Amazon arbeitet und ebenfalls bei dem jüngstem Protest in Berlin dabei war, sagt: „Es kann nicht sein, dass der reichste Mann der Welt eine Auszeichnung bekommt, aber seine Beschäftigten keinen Tarifvertrag.“ Im April 2013 haben sie dafür zum ersten Mal gestreikt. Inzwischen haben sich ihnen Amazon-Beschäftigte aus ganz Europa angeschlossen. Im März streikten zum ersten Mal Amazon-Beschäftigte des bisher einzigen Versandhandelszentrums in Spanien in San Fernando de Henares nahe der Hauptstadt Madrid. Ein spanischer Amazon-Beschäftigter sagte beim Protest vor dem Springer-Haus in Berlin: „98 Prozent der Belegschaft haben sich an unserem Streik beteiligt. Das müssen wir überall in Europa schaffen.“ Die italienischen Amazonier haben Amazon weltweit erstmals zur Unterzeichnung einer Betriebsvereinbarung gebracht (siehe Titelseite). „Wir sind ein lokaler Faktor, Amazon ein globaler Player. Das macht es kompliziert“, sagte – als die Verhandlungen noch liefen – Fiorenzo Molinari, der in Castel San Giovanni für den italienischen Gewerkschaftsbund CGIL die Auseinandersetzung mit Amazon koordiniert.

„Hallo? Wo sind wir denn hier?“, rief der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske vor dem Springer-Haus in Berlin. Jeff Bezos, dem Amazon Chef, gehe es einzig um Profite. Aber „was hat das mit gesellschaftlicher Verantwortung oder Kultur zu tun?“, fragte Bsirske in Anspielung auf den Axel-­Springer-Award. „Was ist das für ein Regime, das Inaktivitätsprotokolle führt? Zweimal inaktiv in fünf Minuten, wurde einem Beschäftigten vorgehalten. Das, was wir bei Amazon erleben, das ist Kulturkampf!“ Ruhe werde es erst geben, wenn es Tarifverträge gibt, an allen Amazon-Standorten, überall in der Welt. Deshalb streiken die Amazon-Beschäftigten auch weiter. Nicht jede Minute, nicht jeden Tag, aber an wichtigen Tagen, wenn es Amazon einen Strich durch die Rechnung machen kann. An immer mehr Amazon-Standorten und vereint.

Amazon in Kürze
Von 17.000 Beschäftigten im Jahr 2007 ist Amazon bis 2017 zu einem Unternehmen mit weltweit 566.000 Beschäftigten gewachsen. In insgesamt 30 Ländern der ­Erde betreibt Amazon dutzende von Versandhandelszentren, in Indien etwa sind es derzeit 41. In Europa unterhält Amazon Standorte unter anderem in Deutschland, Österreich, Schweiz, Polen, Tschechien, Frankreich, Italien, Spanien, Holland und Großbritannien.

In Deutschland beschäftigt der US-Konzern aktuell rund 15.000 Menschen in 13 Versandhandelszentren. Der vierzehnte deutsche Standort entsteht gerade in Mönchengladbach und soll 2019 in Betrieb genommen werden. In Dortmund hat Amazon Mitte April 2018 sein bisher modernstes Zentrum mit 1.600 Beschäftigten eröffnet. Fast alle Beschäftigten arbeiten dort mit befristeten Verträgen. Das Hamburger Abendblatt schrieb Ende April: „An Amazon lässt sich eine Krankschrumpfung sozialer Verhältnisse besichtigen: Besser bezahlte Jobs werden durch Niedriglöhner ersetzt, die dann in einem nächsten Schritt von Maschinen verdrängt werden dürften.

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