Unternehmen dürfen sich Tarifverträgen nicht verweigern – Tarifbedingungen sollen für alle gelten.
Ein Bericht aus der Druck- und Papierbranche von Michaela Böhm
Wie arbeitet es sich besser – mit oder ohne Tarifvertrag?
Gute Frage. Wer einen Tarifvertrag hat, bekommt fast ein Fünftel mehr Lohn oder
Gehalt, arbeitet im Durchschnitt wöchentlich eine Stunde kürzer und hat mehr
Urlaub und Urlaubsgeld. Allerdings gilt ein Tarifvertrag nur noch für jeden
zweiten Beschäftigten. Es sei »wünschenswert und erstrebenswert, in Deutschland
wieder eine höhere Tarifbindung zu gewinnen«, sagte Angela Merkel bei einem
Festakt zu 70 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB). Das sehen wir auch so.
Die große Koalition könnte sofort etwas tun für mehr Tarifbindung.
»Das Vetorecht der Arbeitgeber sollte abgeschafft werden.
OT-Mitgliedschaften in den Arbeitgeberverbänden gehören ebenso abgeschafft.«
Dierk Hirschel, Chefökonom bei ver.di
Allgemein verbindlich – was ist das?
Ist ein
Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt, dann gilt er für alle Betriebe
und Beschäftigten der Branche. Anders gesagt: Die ver.di-Tarifverträge werden
in jedem Betrieb in der Druckindustrie und Papierverarbeitung angewandt – in
Ost und West, Nord und Süd. Auch in tariflosen Unternehmen.
Warum ist das nötig?
Aus
Notwehr. Denn für immer weniger Beschäftigte gilt ein Tarifvertrag. Weil Firmen
Betriebsteile auslagern und den Tarifvertrag nicht anwenden, aus dem
Unternehmerverband austreten oder neue tariflose Betriebe gründen. Darüber
hinaus bieten Unternehmerverbände Mitgliedschaften ohne Tarifbindung an. Das
wird so rege in Anspruch genommen, dass oft die Mehrheit in einem Verband aus
tariflosen Betrieben besteht – und die bestimmen dann über die Tarifpolitik
mit.
Wie geht das?
Zunächst
müssen sich Gewerkschaft und der Unternehmerverband einig sein – beispielsweise
ver.di und der Bundesverband Druck und Medien (bvdm). Sie können gemeinsam beim
Bundesarbeitsministerium oder – wenn es um regionale Tarifverträge geht – bei
den zuständigen Landesregierungen einen Antrag stellen. Die Tarifausschüsse der
Regierungen sind mit je drei Vertreter*innen der Gewerkschaften und der
Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände besetzt. In diesen Ausschüssen
muss – so der juristische Begriff – Einvernehmen hergestellt werden. Ist eine
Seite dagegen, ist die Allgemeinverbindlicherklärung gescheitert. Oft stimmt
die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände dagegen. Sie hat praktisch
ein Vetorecht.
Ohne Tarifvertrag: länger arbeiten, weniger verdienen
»Um dem Preis- und Lohndumping in der
Druckindustrie etwas entgegenzusetzen, haben wir den Bundesverband Druck und Medien
aufgefordert, gemeinsam mit uns für bestimmte tarifliche Regelungen die
Allgemeinverbindlichkeit zu beantragen.«
Andreas Fröhlich, ver.di-Verhandlungsführer
für die Druckindustrie
Wie lässt sich das ändern?
Der Deutsche
Bundestag müsste das Tarifvertragsgesetz ändern und das Vetorecht für
Unternehmerverbände abschaffen. Die jüngste Reform von 2014 hatte zwar das
Ziel, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu erleichtern. Doch
das ist gescheitert.
Sind viele Tarifverträge in Deutschland allgemein verbindlich?
Zwei Zahlen vom
Bundesarbeitsministerium: Von den rund 73.000 Tarifverträgen im Tarifregister
sind zurzeit 443 allgemein verbindlich (Stand: 1. Juli 2017; das Verzeichnis
wird derzeit überarbeitet).
Um welche Teile des Tarifwerks könnte es gehen?
Um das gesamte
Tarifwerk einer Branche. Unter den wenigen allgemein verbindlichen Tarifverträgen
finden sich welche zu Qualifizierung, Zusatzversorgung, vermögenswirksamen
Leistungen, Kündigungsschutz. Seltener wird die gesamte Tariftabelle für
allgemein verbindlich erklärt. Eine andere Möglichkeit ist, über das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz eine Lohngruppe herauszugreifen. Sie könnte für
allgemein verbindlich erklärt werden. Konkret bedeutete das für die Papierverarbeitung:
Jede Fachkraft verdiente dann im Westen mindestens 17,37 Euro (Ost: 16,88
Euro).
Welche Vorteile hat die
Allgemeinverbindlicherklärung für die Beschäftigten?
Man stelle sich vor:
In jedem Betrieb der Druckindustrie oder Papierverarbeitung werden Tariflöhne
bezahlt. Zuschläge, Urlaubsgeld und tarifliche Jahresleistung sind überall
gleich. Arbeitszeit und Zahl der Urlaubstage ebenfalls. Niemand muss mehr seine
Heimatregion verlassen, weil er sich die schlechte Bezahlung nicht mehr leisten
kann. Niemand muss fürchten, durch Niedriglöhne in die Armut getrieben zu
werden. Stattdessen zahlen Beschäftigte und Unternehmer auf Basis anständiger
Löhne Steuern und Beiträge in die Sozialkassen. Davon profitieren alle. Der
Wettbewerb um Aufträge findet nicht mehr über niedrige Löhne statt, sondern
über gute Produkte und Dienstleistungen.
»Wir fordern
eine Änderung des Tarifvertragsgesetzes. Die Allgemeinverbindlichkeit darf
nicht länger an dem (…) Vetorecht der Arbeitgeberverbände scheitern.«
Frank Werneke, Vorsitzender
von ver.di
Das fordert ver.di:
➔ Weg mit dem
Vetorecht für Unternehmerverbände. Stattdessen sollte die Mehrheit im
Tarifausschuss über eine Allgemeinverbindlicherklärung entscheiden.
➔ Ende der
OT-Mitgliedschaft: Mitglieder in Unternehmerverbänden, die Tarifverträge
aushandeln, müssen die Tarifverträge auch anwenden.
➔ Tarifverträge
sollten so lange nachwirken, bis ein neuer Vertrag an deren Stelle tritt.
Quelle:
ver.di Augsburg Kompakt / Ausgabe 3 / März 2020 ; Originalbericht von Michaela Böhm