Dienstag, 6. Juni 2017

Eine Putzfrau zieht vom Leder


aus: ver.di publik 3.2017

Eine Putzfrau zieht vom Leder


DOKUMENTATION - Die Reinigungskraft Susanne Neumann hat 36 Jahre lang geputzt. Jetzt hat sie in einem Buch aufgeschrieben, warum viele Menschen im Land oft ein Leben lang arbeiten und trotzdem verarmen. ver.di publik dokumentiert Auszüge


Ehrlich gesagt verstand ich gar nicht, warum plötzlich der völlige Wahnsinn über mich hereinbrach. Ich hatte diese kurze Frage ausgesprochen, die meiner Ansicht nach vollkommen logisch war. Vorher hatte ich bereits eine ganze Menge anderer Dinge gesagt, die mir genauso logisch erschienen, und auch danach fuhr ich damit fort. Ich sagte zum Beispiel: "Man muss die Agenda 2010 endlich umkehren." Oder: "Es kann nicht sein, dass Leiharbeit zu einem Zwei-Klassen-System führt, weil der eine Bandarbeiter mehr Stundenlohn bekommt als der Kollege direkt neben ihm." Oder: "Wer immer nur einen befristeten Arbeitsvertrag kriegt, der kriegt auch keinen Mietvertrag und keinen Kredit."

Das alles wusste ich aus eigener Erfahrung. Und ich sagte es, weil ich auf einer Bühne saß und vor mir ein Pult aufgebaut war, auf dem groß und breit das Wort "Gerechtigkeit" stand. [...] Damit kannte ich mich nun wirklich aus, nach über 36 Jahren als Putzfrau. Genauer gesagt kannte ich mich mit dem Gegenteil davon aus: mit der ganzen Ungerechtigkeit, die es bei uns gab - in unserem Land im Allgemeinen und in meinem Job und dem Niedriglohnsektor im Besonderen.

[...]

Ich hatte nie das Abitur gemacht, geschweige denn ein Studium absolviert. Und ich konnte mich sicherlich auch nicht so gewählt ausdrücken wie all die Lobbyisten, Funktionäre und Mandatsträger, bei denen die meisten Zuschauer nach zehn Minuten trotzdem geistig komplett abschalten, weil sie nicht mehr kapieren, worum es eigentlich geht. Ich war nur eine kleine Arbeiterin, die immer versucht hat, sich und ihre Familie einigermaßen über Wasser zu halten. Aber dafür besitze ich 'ne verdammt große Klappe, die ich nicht halten kann, wenn ungerechte Dinge in meinem Umfeld passieren.

[...]

Dabei ging's mir im Vergleich sogar noch gut. Ein großer Teil der Bevölkerung hat einfach nicht vom Aufschwung und dem Stellen-Boom profitiert, von dem man überall lesen konnte: 15,7 Prozent der Menschen in Deutschland sind von monetärer Armut bedroht, so viele wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung, hat das Statistische Bundesamt neulich erst ausgerechnet. Und "arm" ist bei uns demnach, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland verfügt, das bei etwas über 900 Euro netto für Singles und rund 1.900 Euro bei einer vierköpfigen Familie liegt. Natürlich betrifft dieses Risiko vorwiegend arbeitslose Menschen. Aber eben auch immer mehr Leute, die noch erwerbstätig sind oder ihr Leben lang gearbeitet haben, rutschen in eine Spirale, aus der man einfach nicht mehr herauskommt. Wer erstmal in einer unteren Einkommensschicht drinsteckt, bekommt beinahe ganz automatisch nur noch Zugang zu Minijobs und Teilzeitarbeit und erhält oft genug nicht einmal die ihm zustehenden Urlaubstage oder Krankheitszeiten ausbezahlt. Kein Wunder, dass die klassische Mittelschicht seit dem Ende der Neunziger immer kleiner geworden ist.


Ich kenne genug Beispiele, die das, was die Statistiker da so nüchtern auf dem Papier ausgerechnet haben, auf recht traurige Weise im wahren Leben bestätigen: Mir kommt immer wieder Frau Kowalski in den Sinn, eine stille, ältere Dame, die bereits weit über 70 war und sich [...] ein Zubrot zu ihrer Mini-Rente dazuverdiente, indem sie in einer Fabrik die Kantine putzte. Das aber war eine richtige Scheißarbeit: Der Speisesaal war riesengroß, Frau Kowalski musste jeden Tag Stühle und Tische verräumen, und überall lagen Essensreste herum, die sich nicht mal eben mit dem Lappen wegwischen ließen. Als im selben Werk eine andere Stelle auf der Büroetage frei wurde, wollte ich ihr einen Gefallen tun und Frau Kowalski den freien Posten verschaffen. Sie hätte dann nur noch ein bisschen staubsaugen müssen. Doch sie wollte das gar nicht!

"Bitte lass' mich einfach da, wo ich gez bin", flehte sie und guckte mich mit großen, leeren Augen an. Ich verstand jedoch nicht ganz, wo genau das Problem war, und hakte nach.

"Warum dat denn?", fragte ich. "Dat oben is' viel leichter für dich. In der Kantine gehste uns noch kaputt!"

"Susi, du musst mir versprechen, niemanden davon zu erzählen", sagte sie, und ich gab ihr mein Wort, dass ich dichthalte.

"Du weißt doch, dass wir sofort rausfliegen, wenn wir irgendwas von hier mit nach Hause nehmen. Und ich nehm' ja an sich auch nix, aber der Kantinenchef packt mir jeden Tag eins von den übrig gebliebenen Essen ein, damit ich abends was zum Futtern hab'. Wenn ich auffe Büroetage bin, dann krieg' ich das nicht mehr. Weißte, so'n Essen kann ich mir doch sonst überhaupt nicht leisten!"

Danach erklärte sie mir unter Tränen, dass sie gerade mal 210 Euro Rente erhalte und die 350 Euro Putzlohn [...] dringend zusätzlich benötige. Sie beantrage aus Scham keine Grundsicherung, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder mitbekamen, wie wenig Geld sie hatte. Frau Kowalski schuftete sich lieber krumm und buckelig, statt einzufordern, was ihr ohne Zweifel zustand. [...]

Auch Frau von Ichhabnix, wie sie sich selbst in einer Mischung aus Humor und Trotz nannte, hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Sie arbeitete als Altenpflegerin und pflegte später auch noch ihren Mann, einen einst selbstständigen Taxifahrer. Das machte sie über zehn Jahre so liebevoll und aufopfernd, wie man es sich nur vorstellen kann. Nachdem er gestorben war, musste sie, die ihr Lebtag in einem Seniorenheim malocht hatte, zum Sozialamt marschieren und Hilfe beantragen. Weil aber die Wohnung, die sie und ihr Gatte rund sechs Jahrzehnte bewohnt hatten, laut gesetzlicher Definition für die vollständige Bewilligung dummerweise 15 Quadratmeter zu groß war, hatte Frau von Ichhabnix nur die Wahl, ihr geliebtes Heim nach 60 Jahren zu verlassen. Oder ihre alte Wohnung als Vermögen gemäß §90SGB anrechnen zu lassen. Sie entschied sich für Letzteres - und muss nun mit 200 Euro pro Monat auskommen. [...]

Ich erinnere mich auch an Olga, eine junge und bildhübsche Polin, die in ihrer Heimat studiert hatte und mit ihrem Mann wegen der besseren Perspektive nach Deutschland gekommen war, hier aber trotz aller Bemühungen keine anständige Anstellung fand. Sie hielt sich [...]mehr schlecht als recht über Wasser und verlor trotzdem nie ihre angeborene Heiterkeit. Stolz wie Bolle zeigte sie mir eines Tages ihren Mutterpass - und ahnte nicht, dass sie mit ihrer Schwangerschaft auch noch die Notlösung ihres Putz-Jobs zu verlieren drohte: Auch ihr Vertrag war natürlich wie die meisten anderen Arbeitspapiere inzwischen auf ein halbes Jahr befristet, und wenn sie das Dokument ihres Frauenarztes, über das sie so glücklich war, unseren Vorgesetzten vorgelegt hätte, dann war sonnenklar, dass sie keine Verlängerung mehr von der Firma angeboten bekommen würde. Ich konnte das gerade noch verhindern, und Olga erhielt noch ein Mal einen neuen Kontrakt. Nach diesen sechs Monaten aber war Schluss. Kein Vertrag, kein Mutterschutz - so einfach war das in derartigen Fällen.

Tja, auch Frau Kowalski, Frau von Ichhabnix, Olga und unzählige ähnliche Schicksale sind Deutschland - ein Land, das andererseits als reisefreudigstes Land der Welt gilt. Ein Land, in dem prozentual so viele Oberklasseautos verkauft werden wie nirgendwo sonst in Europa. Ein Land, in dem es mittlerweile 1,2 Millionen Millionäre gibt. Von all dem aber merken halt die meisten Menschen rein gar nix.

[...]

...ich weiß, dass meine Zeit, in der ich noch die Mächtigen ärgern darf, sehr begrenzt ist. Aber vielleicht hilft dieses Buch ja manchen Menschen dabei, über einige Ungerechtigkeiten etwas intensiver nachzudenken. Und wenn es anderen Leuten wiederum sogar Mut macht, weil eine Frau, die eigentlich immer nur saubermachen musste, dennoch ein bisschen Staub aufwirbeln konnte, dann ist das auch kein Schaden.

Aus: Frau Neumann haut auf den Putz. Warum wir ein Leben lang arbeiten und trotzdem verarmen, Bastei Lübbe, 2017, 230 Seiten, ISBN 978-3-7857-2584-9, 15€


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