Mittwoch, 4. Mai 2016


Wir möchten gerne mal wieder auf einen interessanten Artikel aus der ver.di-Zeitschrift PUBLIK hinweisen:
Das Unrecht nicht hinnehmen


Das Unrecht nicht hinnehmen


INTERVIEW - Günter Wallraff über Unrecht in der Arbeitswelt und die Initiative „work-watch“


 
In Rente gehen, ist für ihn kein Thema:
„Die ewige Ruhe ist uns noch lange genug beschieden. Ich bin wieder in einer Rolle unterwegs. Ich kann‘s nicht lassen“, sagt Günter Wallraff, Deutschlands bekanntester Enthüllungsjournalist. Mit seinen Undercover-Einsätzen dokumentiert Wallraff Missstände in Betrieben und will im besten Fall Arbeitsbedingungen verbessern. Wir sprachen mit ihm über Bossing-Methoden (wenn der Chef mobbt), dubiose Kooperationen zwischen Arbeitgebern und unseriösen Anwaltskanzleien und sein Projekt „work-watch“.

ver.di publik
Was erschreckt dich bei deinen Recherchen besonders. Oder kann dich nichts mehr erschüttern?

Günter Wallraff
Mich erschüttert wieder und wieder aufs Neue, was in der Arbeitswelt an Ausbeutung und Entrechtung passiert. Ich bin weder abgebrüht noch abgehärtet. Es geht mir immer nahe, wenn ich sehe, wie Menschen diesen teilweise frühkapitalistisch anmutenden Zuständen ausgeliefert sind. Viele haben Angst vor den Konsequenzen oder wissen gar nichts über die Arbeit einer Gewerkschaft und ihre Arbeitnehmerrechte. Das ist ein Riesenproblem. In vielen Betrieben wird eine gewerkschaftliche Betätigung nicht nur erschwert, sondern sogar verhindert.

ver.di publik
Kaum ist ein Missstand aufgedeckt und wird öffentlich diskutiert, folgt schon der nächste. Bist du da manchmal frustriert?

Günter Wallraff
Wenn ich sehe, wie Rechte, die durch eine Arbeiterbewegung erkämpft wurden, rückgängig gemacht werden, dann ist es auch zum Verzweifeln. Doch Sisyphos ist meine Leid- und Leitfigur: Egal, wie wenig erfolgversprechend und anstrengend es im Moment auch erscheinen mag, es ist oft viel mehr möglich, als man erst mal für möglich gehalten hat. Wenn man es nämlich hinnimmt, dann ist man mitverantwortlich oder sogar mitschuldig. Täglich erreichen mich Grausamkeiten per E-Mail oder werden an „work-watch” herangetragen. Mit diesem Projekt, auch jenseits der medialen Aufmerksamkeit, gelingt es in Einzelfällen unter Einbeziehung der Beteiligten, Verbesserungen durchzusetzen. Um Frust zu vermeiden, ist es wichtig, Nachhaltigkeit zu erzeugen und immer wieder unter Beweis zu stellen: Solidarität ist kein aus der Mode gekommenes Fremdwort, wir können etwas ändern.

„Egal, wie wenig erfolgversprechend und anstrengend es im Moment auch erscheinen mag, es ist oft viel mehr möglich, als man erst mal für möglich gehalten hat“ Günter Wallraff

ver.di publik
Arbeitgeber lassen sich viel einfallen, um Mitarbeiter loszuwerden. Oft werden dabei Anwälte engagiert, die sich selbst rühmen, und zwar mit dem Kündigen von Unkündbaren. Müssen wir davon ausgehen, dass diese Vorgehensweisen zunehmen?

Günter Wallraff
Es gibt mittlerweile in Deutschland eine ganze Reihe von solchen Unrechtsanwälten, die nichts anderes tun, als jenseits des Arbeitsrechts und jenseits der Rechtsstaatlichkeit unliebsame Menschen aus den Betrieben zu entfernen – etwa, weil sie einen Betriebsrat gründen wollen. Diese Anwälte arbeiten mit teils kriminellen Methoden, mit zersetzenden Maßnahmen bis hin zu Psychofolter, Abhörmethoden und infamem Bossing gegen unliebsame Mitarbeiter. Einen solchen Anwalt habe ich mir mal von Nahem angesehen, bin ihm in der Rolle eines gealterten Unternehmers im Rollstuhl begegnet, der seinen Betrieb an eine amerikanische Heuschrecke verkaufen möchte, aber vorher noch den Betriebsrat als störenden Kostenfaktor entfernen lassen will. Diesen Anwalt habe ich in einem Beratungsgespräch mit versteckter Kamera gefilmt und dies bei RTL veröffentlicht. Dabei hat er sich wörtlich gerühmt: „Es gibt niemanden, der unkündbar ist! Bei mir fängt die Arbeit erst an, wenn die anderen Anwälte sagen, es geht nicht!“ Er hat mir dann erklärt, dass er alle Leute aus dem Betrieb entfernen könne, die ich raushaben will.

ver.di publik
Kann man Unrecht überhaupt beseitigen, oder sind die Konzerne zu stark?

Günter Wallraff
Auch wir als Verbraucher sind gefordert, wir haben in einem demokratischen Rechtsstaat die Möglichkeit, Änderungen herbeizuführen. Es hat sich schon einiges im Bewusstsein der Verbraucher getan. Auch wenn es zunächst eigennützig ist, weil man sich zum Beispiel gesund ernähren möchte, schwingt darin auch gleichzeitig eine Sensibilisierung für die Tierhaltung mit. Aber: Wenn wir nur bedenkenlos schnellstschnellst und billigst-billigst alles online ordern, sind wir mitverantwortlich! Den Preis für unsere Bequemlichkeit zahlen andere, beispielsweise die Paketzusteller oder unsere immer mehr belastete Umwelt. Es geht nicht um diejenigen, die zu ordentlichen Löhnen unbefristet beschäftigt werden, ich denke hier vor allem an die modernen neuen Arbeitssklaven, die man jederzeit mit einem Arschtritt auf die Straße setzen kann, weil sie befristete Zeitverträge haben oder über Werkverträge oder Scheinselbstständigkeit nicht mal einen Arbeitnehmerstatus besitzen. Die Gewerkschaften sind so stark oder schwach wie ihre Mitgliederzahlen, wie ihre Präsenz in der Öffentlichkeit. Und das Problem ist, dass es in einigen Branchen und vor allem im Osten der Republik nahezu gewerkschaftsfreie Zonen gibt. Es braucht Zivilcourage und Beharrlichkeit, Unrecht nicht hinzunehmen! Gerade auch als Arbeitnehmer/in kann man viel bewirken – wenn man sich organisiert und engagiert.

Interview: Yasemin Taskesen

PUBLIK 2/2016

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