Tarifverträge müssen für allgemeinverbindlich erklärt werden
Heftiger Applaus von ver.di für den Spitzenmanager von Lidl und Kaufland - das hätte sich noch vor kurzem niemand träumen lassen. Am wenigsten wohl Klaus Gehrig selbst, der seit Jahren den Schwarz-Konzern führt. Ende Juli plädierte er bei einem Symposium in Berlin nachdrücklich für die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Handel und erntete die Zustimmung vieler, die sich mit diesem Ziel in der Kampagne "Einer für alle!" engagieren. Mag dieser Schulterschluss zunächst irritieren, so erweist er sich auf den zweiten Blick als sehr plausibel. Denn trotz gegensätzlicher Interessen und Kontroversen - genannt sei hier die fehlende betriebliche Mitbestimmung in den Discount-Filialen - gibt es einen starken gemeinsamen Nenner: das Ja zur Tarifbindung. Schließlich würden Tarifverträge, die überall im Handel gelten, das um sich greifende Lohndumping beenden und für annähernde Wettbewerbsgleichheit bei den Personalkosten sorgen.
Im Handel ist Gefahr in Verzug. Der seit langem zu beobachtende Verdrängungskampf nimmt an Intensität zu. Unternehmen bedienen alle Register, um "Mitbewerber" aus dem Markt zu drängen oder zu übernehmen. Rabattschlachten gehören zum Standardrepertoire, kosten aber oft Rendite. Auch die exzessiven Öffnungszeiten werden als Waffe eingesetzt, weil sie für viele kleinere Händler zu teuer sind und ihnen das Genick brechen. Was ein wenig nach Monopoly aussieht, ist bitterer Ernst. Das zeigen beispielhaft Namen wie Hertie, Wertheim, Praktiker, Quelle, Neckermann, Arcandor und Kaiser's / Tengelmann.
Die Tarifflucht ist alarmierend und der ruinöse Wettbewerb droht auch erfolgreiche Unternehmen zu treffen
Bei der Jagd nach den größten Profiten ziehen einige der Konkurrenten ausnahmslos alle Register. Die Tarifflucht ist alarmierend und der ruinöse Wettbewerb droht auch erfolgreiche Unternehmen zu treffen. Zumal mit Amazon ein ernst zu nehmender Tarifaußenseiter den Markt aufmischen will, koste es, was es wolle: Als nächste Eroberung wird der besonders hart umkämpfte Lebensmittelhandel angepeilt. Der Online-Riese Amazon steht beispielhaft für ein Geschäftsmodell, bei dem niedrige Löhne öffentlich subventioniert werden. Dieses Modell produziert und verschärft Erwerbs- und Altersarmut. Schon heute müssen rund 150.000 Beschäftigte aus dem Einzelhandel zu ihrem Lohn Hartz-IV-Leistungen beantragen, um über die Runden zu kommen. Wie viele tatsächlich einen Anspruch hätten, ist noch nicht erforscht.
Dumping und schlechte Arbeitsbedingungen greifen um sich, seit die Handelsverbände im Jahr 2000 eine Mitgliedschaft "ohne Tarifbindung" eingeführt haben und danach den Konsens mit den Gewerkschaften über allgemeinverbindliche Tarife aufkündigten. Die Tariflosigkeit ist auf einen Höchststand geschnellt. Außer Amazon stehen dafür u.a. Firmen wie Peek & Cloppenburg, bofrost, OBI, Globus, Hornbach, Möbel Lutz, Woolworth, Norma, Toys R Us, Wöhrl sowie viele privat geführte Edeka- und Rewe-Märkte. Zwei Drittel aller Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten aktuell ohne den Schutz des Tarifvertrages, im Groß- und Außenhandel sind es rund 80 Prozent. Sie alle verdienen im Schnitt etwa ein Drittel weniger als nach Tarif, und selbst dort, wo nach Tarif gezahlt wird, sind viele Stellen in Teilzeit- und Minijobs zerstückelt worden. Nur noch jede und jeder Dritte im Einzel- und Versandhandel arbeitet Vollzeit. Zusätzlichen Druck erzeugen Leiharbeit und Befristungen. Vor allem für sehr viele Frauen führt dieser Weg direkt in die Altersarmut, wenn er nicht schnellstens blockiert wird. Etwa 2,5 Millionen Beschäftigten droht nach Berechnungen von ver.di wegen zu niedriger Einkommen Armut im Alter. Die öffentlichen Kassen müssten milliardenschwere Unterstützungen zahlen...
Um die skandalösen Zustände bekannt zu machen und eine Kehrtwende herbeizuführen, hat der ver.di-Fachbereich Handel im Frühjahr die Kampagne "Einer für alle!" gestartet. Noch blockieren die Arbeitgebervereinigung HDE und andere Verbände eine gemeinsame Initiative für gesetzliche Maßnahmen, die eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (AVE) durch das Arbeitsministerium erleichtern. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske und Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger machten deshalb bei dem Berliner Symposium mit Experten aus Wissenschaft, Politik und Unternehmen erneut die Dringlichkeit schnellen Handelns deutlich. Bei vielen ver.di-Aktionen wurde bereits Druck für allgemeinverbindliche Tarifverträge gemacht, auch in der Tarifrunde 2017. Gleichzeitig ist erneut sehr klar geworden, dass Mitgliederstärke und Kampfkraft auch in Zukunft entscheidend für jede Tarifauseinandersetzung sein werden. Egal, ob mit oder ohne AVE: Ein bequemes Abo auf faire Einkommen wird es in diesem Wirtschaftssystem nicht geben.
(Quelle: ver.di publik )
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