Auf der Betriebsversammlung am 9. Oktober stellte BR-Mitglied Timm Boßmann die rechtlichen Hintergründe der Zeiterfassung bei WELTBILD dar. Überraschender Weise war er sich in den wesentlichen Punkten mit Geschäftsführer Dr. Martin Beer einig. Überraschend deshalb, weil bei WELTBILD vieles anders gehandhabt wird, als es in der Betriebsvereinbarung "Flexible Arbeitszeit" von 1996 festgelegt wurde. Dr. Martin Beer bekannte sich öffentlich zu dieser Betriebsvereinbarung und bestätigte, dass sich bei WELTBILD jeder Arbeitnehmer aussuchen könne, ob er/sie stempeln wolle oder nicht. Das sei ja gerade das Schöne, sagte der Geschäftsführer sinngemäß.
Was steht in der BV "Flexible Arbeitszeit" von 1996?
• „Für jeden Arbeitnehmer im Geltungsbereich dieser Betriebsvereinbarung wird ein Arbeitszeitkonto geführt.“
• „Diese Betriebsvereinbarung gilt für alle Arbeitnehmer der Weltbild Verlag GmbH.“
• „Ausgenommen sind leitende Angestellte, gewerbliche Mitarbeiter aus dem Lager-/Versandbereich und Außendienst-mitarbeiter.“
Weiter heißt es:
• „Auf ausdrücklichen Wunsch des einzelnen Arbeitnehmers können von der Führung eines Arbeitszeitkontos ausgenommen werden:
• Redakteurinnen und Redakteure an Zeitschriften
• Arbeitnehmer mit einzelvertraglichen Sondervereinbarungen (z. B. Führungskräfte, Öffentlichkeitsarbeit, Hausmeister)“
430 KollegInnen ohne Stempelkarte
Tatsächlich arbeiten derzeit rund 430 MitarbeiterInnen ohne Stempelkarte. Das entspricht 1/3 der Angestellten im kaufmännischen und kreativen Bereich. Und das sind beileibe nicht alles Führungskräfte: Es gehören tariflich eingrupppierte MitarbeiterInnen genauso dazu, wie KollegInnen mit Einkommen, die geringfügig über der Tarifgruppe VI liegen.
Woher kommt dieses krasse Missverhältnis? Das hat mehrere Gründe, stellte Timm Boßmann dar. Zum einen wurden die KollegInnen von Publica Data (jetzt: Weltbild IT) nur ohne Stempelkarte übernommen. Zum anderen fällt dem BR auf, dass nicht nur im IT-Bereich immer mehr Neueinstellungen ohne Stempelkarte durchgeführt werden.
Das Schlimmste aber ist: Oft genug wird KollegInnen, die notorisch mit Arbeitsaufgaben überlastet werden, mit mehr oder weniger sanftem Druck die sogenannte "Vertrauensarbeitszeit" angeboten. Damit wird das Problem der Überlastung zwar nicht gelöst, aber die Überstunden werden nicht mehr dokumentiert und in der Folge nicht mehr bezahlt. Und das hat gravierende finanzielle Folgen für die Betroffenen. Man könnte das auch organisierten Lohndiebstahl durch den Arbeitgeber nennen! Wir haben diesen Zusammenhang bereits in unserem Beitrag vom 24. August ausführlich dargestellt: "Lange Arbeitszeiten drücken AT-Lohn unter das Niveau von Tarifgruppe V"
Was können Sie tun?
Die Betriebsvereinbarung "Flexible Arbeitszeit" ist immer noch gültig und enthält für diese Fälle eine Ausstiegsklausel: „Diese Entscheidung (auf die Stempelkarte zu verzichten) ist der Geschäftsleitung mitzuteilen und kann von jedem einzelnen Arbeitnehmer mit einer Frist von 1 Monat rückgängig gemacht werden.“ Mehr als ein Dutzend KollegInnen haben das inzwischen getan. JedeR hat die Karte ohne Lohneinbußen zurückerhalten.
Warum ziehen nicht mehr KollegInnen die Notbremse?
Darüber geben einige Kommentare in diesem Blog Auskunft. Zum Beispiel:
• „Wer bei unserem Chef seine Stempelkarte zurückholt, wird anschließend von ihm gemobbt.“
• „Mein Kollege weiß genau, was ihm dann blüht. Deshalb lässt er es lieber.“
• „Wer sich seine Stempelkarte zurückholt, gilt als arbeitsscheu bzw. arbeitsunwillig. So verzichte ich lieber auf 20% mehr Stundenlohn, um gegenüber meinem Vorgesetzten kein ‚falsches Zeichen‘ (O-Ton) zu setzen.“
• "Denn es ist so, dass zwar die meisten wissen, dass sie stempeln dürfen – aber blöd angeredet wird man halt.“
Boßmann konfrontierte den Geschäftsführer mit diesen Aussagen. Der gab sich ahnungslos und betonte, dass die Betriebsvereinbarung gültig sei, und vom Arbeitgeber eingehalten würde. Abteilungs- und BereichsleiterInnen sind demnach gehalten, die Rückforderung der Stempelkarte ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Das hat der Geschäftsführer selbst öffentlich gesagt!
Lohnerhöhung für Rückgabe der Stempelkarte ist Tarifbruch!
In den Kommentaren im Weltbild-ver.di-Blog fand Boßmann außerdem einen Hinweis auf den Bruch des Tarifvertrages durch den Arbeitgeber. In einer der Stellungnahmen aus der Belegschaft heißt es: „Wer in unserer Abteilung die Stempelkarte abgegeben hat, bekam eine höhere Tarifgruppe (V statt IV) als ‚Zuckerl‘.“ Das geht natürlich gar nicht, denn die Eingruppierungen im Tarifvertrag folgen einer grundsätzlich anderen Systematik:
• Der Lohn richtet sich nach der Art der Tätigkeit, NICHT nach der Dauer!
• Der Grad der Selbstständigkeit und die notwendigen Fachkenntnisse zählen, NICHT die Zeit!
• Löhne oberhalb des Tarifs werden nicht als Gefälligkeit gezahlt, sondern für besondere, seltene Qualifikationen.
• Die Flexibilität spielt eine Rolle, NICHT die Wochenstundenzahl.
Wenn in einer Abteilung die durchschnittliche Eingruppierung gestiegen sein sollte, weil viele KollegInnen gegen eine unrechtmäßige Erhöhung auf die Zeiterfassung verzichtet haben, sind die Löhne der StemplerInnen dem höheren Niveau anzupassen, forderte Timm Boßmann. Falls Sie in Ihrer Abteilung diesen Verdacht haben, wenden Sie sich bitte an den Betriebsrat, der die Eingruppierungen in Ihrem Bereich überprüfen wird. Ver.di-Mitglieder können in der Folge auf eine Lohnerhöhung klagen!
Gesundheitliche Folgen dauerhaft überhöhter Arbeitsstunden
Im Weiteren wies Timm Boßmann auf die persönlichen Folgen von Arbeitsüberlastung hin:
• Probleme in der Familie
• Probleme am Arbeitsplatz aufgrund von Fehlleistungen
• Suchtprobleme (Nikotin/Alkohol/Tabletten)
• Gesundheitliche Probleme: Depressionen/Burnout
Als Beleg zitierte Boßmann einige Studienergebnisse nach der Marketing Fachzeitschrift "werben&verkaufen":
• 77% der Berufstätigen geben an, dass sie heute effektiv mehr Arbeit erledigen als 2010
• 90% der Personalmanager nehmen vermehrt psychisch bedingte Krankenstände wahr
• 76% sehen die Notwendigkeit, etwas gegen Burnout-Effekte zu unternehmen
• Hauptursache: mangelndes Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben
Die gesellschaftlichen Folgen von Überstunden
Allein im Jahr 2011 wurden in Deutschland 1.400.000.000 Überstunden geleistet. Das entspricht bei einem Vollzeitjob rund 800.000 Jahren Arbeitszeit. Anders ausgedrückt: Durch das völlig überzogenen Einfordern (und Ableisten) von Überstunden gehen 800.000 Arbeitsplätze verloren. "Wer", fragte Boßmann, "zahlt am Ende Arbeitslosengeld bzw. Hartz IV?" Wieder einmal die ArbeitnehmerInnen.
Wer unbezahlte Überstunden schiebt, zahlt doppelt, dreifach und vierfach
• Sie zahlen mit Ihrem Stundenlohn
• Sie zahlen mit Ihrem Familienglück
• Sie zahlen mit Ihrer Gesundheit
• Sie zahlen mit höheren Sozialabgaben
"Holen Sie sich Ihre Karte zurück!", rief Timm Boßmann am Ende seines Vortrags der Belegschaft zu. Der BR will und wird niemanden zwingen wieder zu stempeln, aber jeden und jede unterstützen, der/die wieder an der Zeiterfassung teilnehmen möchte. Rufen Sie den Betriebsrat an, oder schreiben Sie ein Mail an betriebsrat@weltbild.com . Das dürfen Sie im Übrigen auch gerne weitersagen. Nutzen Sie einfach die anonyme Weiterleitungsfunktion unter diesem Artikel.
In der neuesten Mail der Personalabteilung zu den halben Tagen 24. und 31.12. müssen Zeitsouveräne, die nicht stempeln, je einen halben Tag Urlaub nehmen.
AntwortenLöschenTarifmitarbeiter, die stempeln, können auch gleiten.
Was ist mit Nicht-Tarifmitarbeitern, die stempeln ?
Gibt es die nicht ?
naja, ich würde sagen, dass man da auch "gleiten" kann, denn dafür ist das zeitkonto ja da, oder? denn stempelnde nicht-tarifmitarbeiter gibt es ja (seit neuestem).
LöschenDer Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
AntwortenLöschen